Der spektakuläre Neufund des bislang vollständigsten Monstrocrinus granosus-Exemplars schaffte es auf die Titelseite der Publikation im Fachjournal Journal of Paleontology (Cambridge University Press)

hessenARCHÄOLOGIE

Das „Monster“ aus Dietzhölztal-Mandeln

Neue Erkenntnisse des paläontologischen Kooperationsprojektes zur Anatomie und Funktionsmorphologie des Crinoiden Monstrocrinus aus dem Grenzbereich Unter-/Mittel-Devon (ca. 393 Mio. Jahre) von Hessen, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Spanien und Brasilien schreiben einhundert Jahre der Forschung um.

Basierend auf erstmals nachgewiesenen fossilen Skelettelementen gelang es in einem Gemeinschaftsprojekt der Paläontologischen Denkmalpflege der Abteilung hessenARCHÄOLOGIE des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen (LfDH), der Erdgeschichtlichen Denkmalpflege der Direktion Landesarchäologie der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz (GDKE) und dem Department of Geological Sciences der Ohio State University (Columbus, Ohio, USA), die Anatomie und Funktionsmorphologie des bislang als ungestielt interpretierten Crinoiden Monstrocrinus Schmidt, 1941 zu deuten, dessen Kelch mit „monströsen“ Stachelfortsätzen bestückt war. Die Ergebnisse wurden jüngst im renommierten Fachjournal Journal of Paleontology (Cambridge University Press) von Dr. Jan Bohatý (LfDH), Markus J. Poschmann (GDKE), Prof. Dr. William I. Ausich (Ohio State University) und Peter Müller (Freilingen/Westerwald) publiziert.

Fossile "Seelilien" im Rheinischen Schiefergebirge

Crinoiden, auch bekannt als „Seelilien“, gehören in den ca. 400 bis 300 Millionen Jahre alten Sedimentgesteinen des Rheinischen Schiefergebirges mit zu den häufigsten Fossilien. In der Regel finden sich von den einstigen Meeresbewohnern nur die zerfallenen Skelettelemente – vollständig versteinerte Individuen sind dagegen überaus selten. Sie sind jedoch Grundlage jedweder wissenschaftlichen Deutung.

Zwei Abgüsse des Holotypus von Monstrocrinus granosus

Entgegen ihres Namens oder „lilienartigen“ Äußeren handelt es sich bei den Crinoiden um Meerestiere, die zur Klasse der Echinodermata ‒ „Stachelhäuter“ (wie Seeigel oder Seesterne) gehören. Bei ihrem calzitischen Skelett handelt es sich um ein organisch ummanteltes „Endoskelett“. Es besteht aus einer Wurzel, einem Stiel und einer Krone. Mithilfe der Wurzel verankern sich die Tiere auf dem Meeresboden oder auf einem Haftgrund. Mit dem flexiblen Stiel positioniert sich der Stachelhäuter bei der Nahrungsaufnahme über dem Bodensubstrat. Die Krone schließlich besteht aus einem Kelch und den Armen. Der aus zahlreichen Calcitplatten aufgebaute Kelch schützt den Weichkörper des Tieres ‒ die Arme dienen primär dem Nahrungserwerb.

Crinoiden gehörten seit dem Ordovizium (circa 485 Mio. Jahre) bis zum Massenaussterben an der Perm-/Trias-Grenze (vor circa 252 Mio. Jahren) zu den charakteristischen Bewohnern flacher mariner Lebensräume. Insbesondere in den Zeitaltern Devon‒Karbon (vor circa 419‒299 Mio. Jahren) waren sie mit zahlreichen Familien, Gattungen und Arten vertreten. Ihren Verbreitungserfolg verdankten die Crinoiden nicht zuletzt der Fähigkeit, ihre Morphologie an unterschiedliche ökologische Nischen anpassen zu können. Sie waren z.B. dazu in der Lage, ihre Wurzeln an das jeweilige Bodensubstrat anzupassen. Ferner konnten sie ihre Stiellängen an unterschiedlich turbulente marine Lebensräume adaptieren. Besonders bemerkenswert ist zudem ihre Fähigkeit zur Regeneration: Crinoiden waren und sind dazu fähig, verlorene Arme vollständig zu regenerieren. Auch war es einigen Gattungen möglich, das Bodensubstrat zu verlassen, indem sich ihre freischwimmenden Larven z.B. auf Treibholz niederließen. Zumindest von den heute lebenden Vertretern ist bekannt, dass sich gestielte Crinoiden aktiv von ihren Wurzeln loslösen können und, den Stiel auf dem Meeresboden hinter sich herziehend, mithilfe der Arme über das Bodensubstrat krabbeln. Nicht zuletzt sind zudem noch aktiv schwimmfähige, stiellose Crinoiden zu erwähnen, wie z.B. die „Haarsterne“ der tropischen Zonen.

Über Stachel und Stiel

Die Klasse der Stachelhäuter trägt ihren Namen nicht ohne Grund. Wie die Seeigel, entwickelten auch einige Crinoidengattungen unterschiedlich ausgebildete calcitische Stachelfortsätze, die entweder Bestandteil der jeweiligen Skelettplatten sind, oder ‒ wie es bei Seeigeln der Fall ist ‒ diesen aufsitzen. Es liegt auf der Hand, dass diese Stacheln primär als Abwehrmechanismen vor potenziellen Fressfeinden gedeutet wurden. Von den dorn- oder nadelartigen Stacheln abweichende Formen lassen jedoch Zweifel aufkommen, ob diese alleinige Interpretation ausreicht.

Besonders an einigen paläozoischen Crinoidenskeletten können extrem paddelförmige, ruderförmige oder auch gabelförmige Stachelelemente beobachtet werden, die auf den Skelettplatten der Kelche bislang wissenschaftlich unzureichend erfasster Crinoiden aufsitzen. Im Zuge des Gemeinschaftsprojektes gelang es nun erstmals, die Funktion der Stacheln sowie den gesamten, bislang unbekannten Skelettaufbau eines solchen Crinoiden zu deuten, dessen Kelch mit „monströsen“ Stachelfortsätzen bestückt war: Monstrocrinus aus dem Grenzbereich Unter-/Mittel-Devon (circa 393 Mio. Jahre) von Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Spanien und Brasilien. Entscheidende Hinweise zu den neuen Erkenntnissen lieferten hierbei ein nahezu vollständiger, bislang unbeschriebener Fund aus dem sauerländischen Olpe in Nordrhein-Westfalen.

Schematische Lebensrekonstruktion von Monstrocrinus (rechts) und die bisherige Fehlinterpretation der Gattung als stielloser Crinoide (links)

Dieser ermöglichte die wissenschaftliche Revision des hessischen Fossilmaterials ‒ des sog. Typusmaterials (dem Refferenzexemplaren einer erstbeschriebenen Spezies) der Art Monstrocrinus granosus ‒ aus dem paläontologischen Bodendenkmal „Mandeln 991“, dem ehemaligen Gemeindesteinbruch am Nordhang des Hauberges, im Nordosten von Dietzhölztal-Mandeln im mittelhessischen Lahn-Dill-Kreis. Im Zuge der gemeinsam veröffentlichten Studie wurden von dem im Jahr 1935 gefundenen hessischen Typusmaterial neue Silikonabgüsse angefertigt. Durch den Abgleich mit dem spektakulären Fossil aus Olpe gelang es nun erstmals nachzuweisen, dass die Gattung Monstrocrinus einen langen Stiel besaß und nicht, wie bislang angenommen, im Wasser schwebend oder mit dem Kelch auf dem Meeresboden aufsitzend lebte. Auch die Stacheln des Monstrocrinus dienten vermutlich vielseitigeren Zwecken als gedacht: Sie fungierten nicht ausschließlich als Abwehrelemente, sondern positionierten die Krone zudem optimal in der Meeresströmung, in welcher der Crinoide seine Nahrung einfiltrierte.

Genau 100 Jahre nach der erstmaligen Erfassung dieser morphologisch bemerkenswerten Crinoidengattung muss die Geschichte dieser sonderbaren Lebensformen nun neu geschrieben werden.

Um die Bedeutung dieser Entdeckung besser einschätzen zu können, ist ein historischer Rückblick hilfreich. Im Jahre 1924 erfasste der Geologe und Paläontologe Wilhelm Erich Schmidt (1882‒1944) im Zuge seiner Erläuterungen zur Geologischen Karte von Preußen und benachbarten Bundesstaaten die charakteristischen Fossilien des Osterbachtals nordwestlich von Olpe-Lütringhausen. In seiner Faunenauflistung erwähnte er das Vorkommen einer bislang unbekannten Gattung mit ungewöhnlich „monströsen“, axtförmigen Stacheln auf den Kelchplatten.

1941 – 17 Jahre später – beschrieb Schmidt diese Gattung dann unter dem Namen Monstrocrinus und deutete den Crinoiden als stiellose Gattung, die mithilfe ihrer „monströsen Schwebestacheln“ frei auf dem Meeresboden aufliegen oder temporär im Wasser schweben konnte. Seine Interpretation beruht auf isolierten Stacheln und auf schlecht sowie negativ erhaltenen Fossilabdrücken zerfallener Kelchreste, von denen Schmidt Abgüsse anfertigte. Einen Stiel oder Stielansatz am Kelch erkannte er nicht, wohl aber, dass offensichtlich zwei Arten seiner Gattung Monstrocrinus existierten: die erste ohne ‒ und die zweite mit gekörnter bzw. „granuloser“ Oberflächenverzierung. Entsprechend unterschied er den oberflächlich unverzierten M. securifer von M. granosus.

Monstrocrinus granosus stammt aus dem mittelhessischen Mandeln. Das Original wurde im Jahre 1935 durch den Geologen und Paläontologen Prof. Dr. Gerhard Solle (1911‒1981; ehemaliger Präsident der Paläontologischen Gesellschaft) geborgen und liegt heute unter der Sammlungsnummer SMF-XXIII-113a im Forschungsinstitut und Naturkundemuseum Senckenberg (Frankfurt am Main).

49 Jahre nach der Erstbeschreibung der Gattung und der beiden durch Schmidt definierten Arten beschrieb der französische Paläontologe Prof. Dr. Jean Le Menn im Jahre 1990 isolierte Monstrocrinus-Stacheln aus dem oberen Unter-Devon Spaniens sowie sieben Jahre später auch aus dem Grenzbereich Unter-/Mittel-Devon Algeriens. Diese Funde sind jedoch nicht zweifelsfrei identifizierbar, da sie durchaus auch zu weiteren Gattungen gehören könnten. Auch Le Menn deutete Monstrocrinus als stiellosen Crinoiden, der mittels seiner „Schwebestacheln“ driften konnte. Dieser Interpretation folgten auch Scheffler et al. (2011), welche die Gattung erstmals im unteren Mittel-Devon Brasiliens belegen konnten.

Zur Validierung des spektakulären Monstrocrinus granosus-Neufundes aus dem Devon Olpes wurde das Typusmaterial beider in Deutschland bekannten Arten neu untersucht. Sowohl vom Holotypus (dem Referenzexemplar einer neubeschriebenen Art) des Monstrocrinus securifer, der unverzierten Crinoiden-Variante, als auch vom Typus des M. granosus wurden Neuabgüsse angefertigt und analysiert. Es stellte sich heraus, dass beide Exemplare wesentlich vollständiger und detailreicher erhalten sind, als dies von Schmidt 1941 erkannt wurde. Das Forscherteam fand bei seinen Untersuchungen weitaus mehr Skelettelemente, als bislang angenommen. Tatsächlich handelt es sich beim Holotypus des M. granosus um einen zerfallenen Crinoiden mit einem zuvor nicht erkannten Stiel, einem zerfallenen Kelch mit granulierter Oberfläche und erhaltenen Stachelfortsätzen sowie um stark zerfallene Armfragmente.

Diese neuen Erkenntnisse aus Hessen waren für die sichere Einordnung des Neufundes aus Olpe unerlässlich, denn dieser bislang vollständigste Monstrocrinus-Fund belegte nun zweifelsfrei, dass die Gattung vollkommen neu interpretiert werden musste. Eindeutig handelte es sich um einen Crinoiden, der seine Krone zum Nahrungserwerb mittels seines Stiels über das Bodensubstrat heben konnte. Die „monströsen“ Stachelfortsätze der Gattung dienten daher nicht dem Driften im Wasser oder dem Aufsitzen auf dem Meeresboden, sondern vermutlich dem Schutz vor Fressfeinden sowie dem Nahrungserwerb und der Stabilität des Crinoiden: Beim Nahrungserwerb bog Monstrocrinus seine Arme fächerförmig nach hinten, sodass die Strömungsgeschwindigkeit durch die Stachelfortsätze und Arme verlangsamt wurde und in Richtung Armoberfläche und Kelchdach zu einer Rückströmung führte. Durch die ruderartigen Stacheln wurde die Krone zudem passiv in einer für den Nahrungserwerb optimalen Position gehalten. Ein wahrer prähistorischer Meister der Hydrodynamik.

Zum Weiterlesen

Journal of Paleontology (Cambridge University Press): Bohatý, J., Poschmann, M. J., Müller, P. and Ausich, W. I. (2024): Putting a crinoid on a stalk: New evidence on the Devonian diplobathrid camerate Monstrocrinus. – Journal of Paleontology, 97, 1233‒1250, doi: 10.1017/jpa.2023.84Öffnet sich in einem neuen Fenster

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