hessenARCHÄOLOGIE

Momentaufnahmen der Kasseler Stadtgeschichte

Unmittelbar zwischen der Weserstraße und dem Karlshospital im Stadtteil Wesertor verlief vor der großflächigen Zerstörung Kassels im Zweiten Weltkrieg die 1262 ersterwähnte Judengasse. Nun bieten Ausgrabungen einen einmaligen Einblick in die Stadtgeschichte, über welche sich auch der Hessische Staatsminister für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, Timon Gremmels, vor Ort informierte.

Die Ausgrabungen an der ehemaligen Judengasse eröffnen ein einzigartiges Fenster in die Geschichte Kassels – sie machen sichtbar, was lange verborgen war. Es ist mir ein besonderes Anliegen, dass wir dieses bedeutende jüdische Kulturerbe sichern, erforschen und für kommende Generationen bewahren.

Timon Gremmels Hessischer Staatsminister

Gemeinsam mit der Landtagsabgeordneten Esther Kalveram, dem Kasseler Oberbürgermeister Sven Schoeller und weiteren Vertretern der Stadt besichtigte er das etwa 350 m² umfassende Grabungsgelände an der Fulda. Grund für die Ausgrabungen ist der Bau einer Unterkunft für Auszubildende auf der Fläche der ehemaligen Judengasse, wie der hessische Landesarchäologe Prof. Dr. Udo Recker vor Ort erläuterte. Die Zusammenarbeit mit den Planungsträgern, der new.space AG, der ausführenden Grabungsfirma Warneke Archäologie GmbH sowie der Unteren Denkmalschutzbehörde Kassels sei dabei hervorragend, berichtete die zuständige Bezirksarchäologin Dr. Eveline Saal.

Das Ziel der seit Ende März laufenden Ausgrabungen ist eine möglichst großflächige Sicherung des jüdischen Kulturerbes und der Siedlungsschichten im Kasseler Boden.

Prof. Dr. Udo Recker Hessischer Landesarchäologe

Unter bis zu drei Meter mächtigen Schichten von Kriegsschutt aus dem Zweiten Weltkrieg finden die Archäologinnen und Archäologen nicht nur die Überreste der ehemaligen Juden- und Klostergasse, wie Hausmauern und Pflasterbeläge, sondern erhalten auch zahlreiche Einblicke in den Alltag der ehemaligen Bewohner. In einer zerstörten Küche wurde ein Kochkessel bei einem Herd dokumentiert und gestapeltes Geschirr wurde ehemals sicherlich in Schränken verwahrt, die den Flammen zum Opfer gefallen sind. In einer Pfefferdose roch es bei der Bergung noch immer nach Pfeffer. Besonders eindrücklich vermittelt der Fund eines komplett erhaltenen gekochten Hühnereis die plötzliche Zerstörung. Das angestochene Ei war wohl als Mahlzeit gedacht, zu welcher es durch den Luftangriff am 22. Oktober 1943 um 20:17 Uhr nie gekommen ist. Während die Kasseler Altstadt und somit auch die Gebäude der Judengasse weitestgehend in Schutt und Asche fielen, hat das zerbrechliche Hühnerei die Zerstörung unbeschadet überdauert.

Gerade bei diesen geopolitischen Entwicklungen, wie wir sie im Augenblick haben, ist es wichtig, den Menschen immer wieder auch anhand von Trümmern zu zeigen, wozu Krieg führt.

Sven Schoeller Oberbürgermeister der Stadt Kassel

Ebenfalls Raub der Flammen wurde das bislang größte Fundstück, nämlich eine Kutsche, die im Innenhof des Freihauses an der ehemaligen Hospitalgasse abgestellt war. Je tiefer das Grabungsteam in den Baugrund vordringt, desto weiter zurück reicht der Blick in die Kasseler Geschichte. So wurden mehrere mittelalterliche Gruben entdeckt, in welchen aufgrund der guten Erhaltungsbedingungen auch organische Lederreste geborgen werden konnten, darunter ein gut erhaltener Lederschuh. Trotz einer für das Jahr 1398 benannten Synagoge fehlen bisher jedoch Hinweise auf religiös geprägtes jüdisches Kulturgut.

Die laufenden Ausgrabungen an der Weserstraße sind die umfangreichsten archäologischen Untersuchungen in Kassel der letzten Jahre und dokumentieren die Kasseler Lebenswelt von den Siedlern des Mittelalters bis zu den neuzeitlichen Bewohner vor den Kriegszerstörungen. Die Ausgrabungen werden voraussichtlich bis Ende Mai andauern.

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