Die heutzutage geringe Bekanntheit von Johann Wilhelm Lehr ist insbesondere darin begründet, dass er hauptsächlich Privatbauten schuf. Diese erregten weniger Aufmerksamkeit als größere, öffentliche Gebäude. Zudem sind sie dem Geschmack ihrer wechselnden Bewohner häufig stärker ausgesetzt. Außerdem wurde sein berühmtestes Werk, die Unionsdruckerei in Frankfurt, im Zweiten Weltkrieg zerstört. Das Werk Johann Wilhelm Lehrs geriet somit zunehmend in Vergessenheit.
Wiederentdeckung von Lehrs Werk
Am Ende seines Lebens hinterließ Johann Wilhelm Lehr eine ungeordnete Sammlung von Glasplattendias. Sein Enkel wandte sich im September 2022 mit der Sammlung und spannenden Hintergrundgeschichten zu bisher nicht bekannten Lehr-Häusern an das Landesamt für Denkmalpflege Hessen. Durch die neuen Informationen konnte weitere Gebäude von Lehr identifiziert und lokalisiert werden. Zuvor hielt man sein Werk weitestgehend für verloren. Diese Ansicht konnte widerlegt werden.
Durch die Diasammlung und die Hintergrundinformationen wurden acht weitere Bauten von Lehr bekannt. Insgesamt umfasst sein Werkverzeichnis jetzt 38 Gebäude, von denen 23 noch erhalten sind. Von den erhaltenen Bauten stehen 15 unter Denkmalschutz, 12 sind sogar als Einzelkulturdenkmäler geschützt. Teilweise standen diese Gebäude bereits unter Denkmalschutz, ohne dass Lehrs Urheberschaft bekannt war.
Pionier des Neues Bauens
Bemerkenswert ist, dass Johann Wilhelm Lehr schon früh die Ideen des neuen Bauens rezipierte. Sein erstes Werk im Stil des Neuen Bauens war 1925 ein Chauffeurwohnhaus in Bad Homburg. Erst 1926 brachte die Gründung des Bauhauses in Dessau und die Werkbundausstellung "Die Wohnung" im Jahr 1927 das Neue Bauen ins Rampenlicht.
Seine Ausbildung an der eher konservativen Baugewerkschule Idstein stellte sicher nicht die Weichen Richtung Neues Bauen. Und es sind gleich seine ersten Bauten überhaupt, mit denen er sich zum Neuen Bauen bekannte. Zuvor war Lehr nach Abschluss seines Studiums jahrelang als Kunstmaler tätig. Erst die Ideen des Neuen Bauens begeistern ihn so sehr, dass er sich wieder der Architektur zuwenden wollte.
Nach dem Chauffeurwohnhaus in Bad Homburg entwarf Lehr 1927 das Haus Hoffmann in Wiesbaden. 1929 folgte die Unionsdruckerei in Frankfurt und 1930 ein Wohnhaus in Köln-Deckstein für den Juristen Victor Loewenwarter.
Architektonische Zeichen des Wiederstandes
Zwei Häuser in der Lanzstraße entpuppten sich als architektonische Zeichen des Widerstandes gegen die Nationalsozialisten. 1936/37 wurde hier ein Wohnhaus für Hans Bredow, Gründer des Deutschen Rundfunks, und direkt nebenan ein Doppelwohnhaus für den Arzt Dr. Schumacher nach Lehrs Entwurf realisiert. Die beiden Wohngebäude im Stil des Neuen Bauens wurden errichtet, obwohl der Architekturstil von den Nationalsozialisten stark eingeschränkt und zensiert wurde.
Der damalige Wiesbadener Baurat Eberhard Finsterwalder war ein großer Förderer des Neuen Bauens. Er fand Wege, wie Lehrs Entwürfe genehmigt werden konnten, ohne zu sehr von den Nationalsozialisten zensiert zu werden. Die beiden Häuser in der Lanzstraße erhielten Alibi-Walmdächer, die jedoch von der Straße aus nicht sichtbar waren. Kurze Zeit später entwarf Lehr zudem gleich mehrere Häuser in der Wiesbadener Höhenstraße. Auch diese wurden nach den Ideen des Neuen Bauens konzipiert und erhielten übersteile Sattel- oder Walmdächer, um den Bauvorgaben zu entsprechen. Johann Wilhelm Lehr gelang es so auf zwei ganz verschiedene Weisen, die Auflagen zu erfüllen und die trotzdem Wirkung des Neuen Bauens zu erreichen.
In Erinnerung an sein vorbildliches architektonisches Werk verleiht die BDA-Gruppe Wiesbaden im Rahmen des BDA-Architekturpreises „Große Häuser, kleine Häuser – Ausgezeichnete Architektur in Hessen“ die alle fünf Jahre „Johann-Wilhelm-Lehr-Plakette.